Null Promille, volles Leben?

Null Promille, volles Leben?

Über alkoholfreie Spitzenweine und die Rolle von Polyphenolen im modernen Lifestyle – von einem, der den Wein liebt – mit und ohne Alkohol.

Von außen betrachtet ist die Weinwelt ein Hort der Genussfreude, manchmal fast entrückt vom Alltag. Doch aktuell gärt es – im besten Sinne – an zwei Fronten: Alkoholfrei soll es sein, gesund soll es sein, aber bitte auch gut.

Keine Frage, die Branche ist im Wandel. Nicht im Sinne der ewigen Rebe zwischen Klimadiskurs und PIWI-Zukunft, sondern in einem Feld, das für viele wie ein Tabubruch klingt: Topweine ohne Alkohol. Und gleichzeitig: Wein als Teil einer gesundheitsfördernden Lebensweise. Zwei scheinbar konträre Stränge, die sich bei näherer Betrachtung nicht widersprechen, sondern herausfordern.

Zwei Aussagen bringen es auf den Punkt

„Topweine ohne Alkohol – ist das möglich?“ fragt der Grandseigneur des Weinjournalismus, Rudolf Knoll, in der aktuellen Ausgabe des Weinfeder-Journals – und klingt dabei wie ein Skeptiker mit berechtigtem Zweifel. Er spricht damit aus, was viele in der Szene denken – und nicht wenige befürchten: Dass der alkoholfreie Wein häufig dort landet, wo einstige Fassweine zur Tankstellenware degradiert wurden – günstig, beliebig, ernüchternd im Wortsinn.

Und der medizinische Fachmann und Kopf von Wein & Gesund, Dr. Herbert Braunöck, resümiert rückblickend in seinem Newsletter auf den Kongress Lifestyle, Diet, Wine and Health (Rom, März 2025):

„Polyphenole sind wichtig – der Lebensstil entscheidet.“

Dr. Braunöck erteilt im Kontext eine klare Absage an jegliches Healthwashing im Weinsegment. Denn ja – Resveratrol, Flavonoide und OPCs zeigen in vitro beeindruckende Wirkungen: antioxidativ, entzündungshemmend, zellschützend. Doch die klinische Relevanz entfaltet sich nur im Kontext eines aktiven Lebensstils: mediterrane Ernährung, Bewegung, soziale Interaktion, bewusster Genuss – das ist die Matrix, in der auch moderater Weingenuss (mit oder ohne Alkohol) seine gesundheitliche Wirkung entfalten kann.

Die neue Promille-Debatte

Wein ohne Alkohol? Lange war das für viele wie ein Konzert ohne Musik. Doch inzwischen wird das Thema ernsthaft diskutiert – auf Fachkongressen, in Kellereien, ja selbst in ernährungswissenschaftlichen Leitlinien. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung empfiehlt inzwischen „Null Promille“ – eine Empfehlung, die in der Weinwelt nicht ohne Kopfschütteln aufgenommen wurde. Schließlich gilt dort nach wie vor: Ein bisschen Promille gehört zum Kulturgut.

Aber was tun, wenn der Wunsch nach Genuss auf ein neues Gesundheitsbewusstsein trifft? Die Nachfrage nach alkoholfreien Alternativen wächst rasant – besonders in Deutschland und Österreich. Doch wie Rudolf Knoll treffend schreibt, mangelt es an Qualität. Der Grund:

„Häufig werden einfache Weine entalkoholisiert – Das Ergebnis kostet dann in vielen Fällen nur einige Euro. Frust im Glas ist vorprogrammiert.“

Dabei gibt es Hoffnung. Immer mehr ambitionierte Winzer und innovative Kellermeister stellen sich der Herausforderung, alkoholfreie Weine zu kreieren, die mehr sind als nur entschärfte Restprodukte. Mit Hilfe modernster Verfahren – von Vakuumverdampfung über Umkehrosmose bis hin zu Spinning Cone Columns – wird versucht, das Aroma zu bewahren und den Charakter zu erhalten. Die ersten Ergebnisse sind vielversprechend. Ein alkoholfreier Riesling kann heute tatsächlich nach Riesling schmecken – wenn man es ernst meint.

Ein kritischer Punkt dabei: der Polyphenolgehalt. Diese sekundären Pflanzenstoffe sind das Gold des Weins – verantwortlich für Antioxidantienwirkung, Farbintensität und nicht zuletzt für sensorische Komplexität. Und ja, sie gelten als die gesundheitlich wertvollen Elemente des Rotweins, wenn er – wie es die berühmte französische Studie einst nahelegte – in Maßen genossen wird.

Aber: Ein Wein ohne Alkohol ist nicht automatisch gesund. Entscheidend ist, ob die wertvollen Inhaltsstoffe – allen voran die Polyphenole – auch nach der Entalkoholisierung erhalten bleiben. Genau hier trennt sich die Spreu vom Traubenkern.

Beiprodukt einer Haltung, kein Gesundheitsbringer

Dr. Braunöck bringt es auf den Punkt:

„Wenn Sie die mediterrane Lebensweise nicht leben, bringt auch der Rotwein nichts.“

Will sagen: Es geht nicht um einen isolierten Stoff oder ein Glas Wein als Wunderwaffe. Die Kombination macht’s – buntes Gemüse, gutes Olivenöl, Zeit zum Essen, Bewegung und soziale Verbundenheit. Der moderate Wein – ob mit oder ohne Alkohol – ist dabei Beiprodukt einer Haltung, nicht der alleinige Gesundheitsbringer.

Und mal ehrlich: Ein gutes Glas alkoholfreier Wein zum Mittagessen mit Freunden, begleitet von Linsen mit Fenchel und einem sonnigen Gemüt – ist das nicht genau das, was wir unter moderner Lebenskunst verstehen?

Die Zukunft ist vergoren – aber nicht betrunken

Wir stehen am Anfang einer Entwicklung. Alkoholfreie Spitzenweine sind möglich – aber noch selten. Polyphenole sind wertvoll – aber keine Absolution für Couchpotatoes. Und wer glaubt, er könne seine Lebensbilanz mit einem Glas entalkoholisiertem Dornfelder aufpolieren, sollte vielleicht besser spazieren gehen oder mit Freunden ein gutes, mediterran inspiriertes Essen genießen – mit einem alkoholfreien Wein, der nicht enttäuscht, sondern überrascht. Dann stimmt auch der Lifestyle.

Und der Rest? Ist Geschmackssache.


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Fotocredit: Generiert mit künstlicher Intelligenz (KI)

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Seit 2000 bin ich mit dem Weinthema und der Weinszene verbunden. Ich agiere als Verleger, publiziere redaktionelle Beiträge und produziere Print- und digitale Weinmedien.