„Säure oder Süße?“

„Säure oder Süße?“

Ein Vater, ein Sohn und die Weine einer Ära

Abends roch die Küche nach Bratkartoffeln und Majoran, und auf dem Tisch stand ein schlankes Glas, in dem das Licht so glitzerte wie die Mosel an einem Julitag. Mein Vater hob es an, prüfte die Farbe, schwieg und nickte. Ich durfte nippen. Und was schmeckte ich? Entweder Säure. Oder Süße. „Wer kann sowas trinken?“, dachte ich und weiss noch heute: Damals schwor ich mir, niemals ein Weintrinker zu werden.

Mein Vater war längst jenseits solcher jugendlicher Absolutheiten. Er war keiner, der Etiketten sammelte. Er war was Wein betraf ein Lagen- und Jahrgangsmensch. „Jungfer, Nussbrunnen, Goldtröpfchen. Und bitte nicht irgendein Jahr“, murmelte er, als wäre es ein Rosenkranz des Genusses. So lernte ich Namen kennen, die klingen wie Kapitel einer Familienchronik: Hallgartener Jungfer und Hattenheimer Nussbrunnen im Rheingau: kühl, präzise, mit feinem Zug. An Mosel und Saar Ockfener Bockstein, Wiltinger Braune Kupp, Zeltinger Sonnenuhr, Erdener Treppchen, Piesporter Goldtröpfchen: Schieferduft, Zitrus, weißer Pfirsich, mit Reife ein Flüstern von Honig und Wachs. Dazu die Ortscharaktere, die Vater liebte: das „Würzige“ vom Trabener Kräuterhaus. Und wenn ich „Wawener Titterpfad“ sagte, korrigierte er milde: „Wawerner Ritterpfad, eine reine Südlage mit Saar-Sonne. Kannst du dir merken“

An Sonntagen schenkte er mit verschmitztem Lächeln auch Legenden ein, die halbe Kioske und ganze Reisebusse füllten: Zeller Schwarze Katz, eine Marke, ein Mythos, ein Gesprächsstoff und natürlich Kröver Nacktarsch, die berühmte Großlage, deren Name schon die halbe Pointe erledigte. Und ja: In den 1960ern und 70ern war das milde, fruchtige Deutschlandbild in der Welt en vogue; Liebfrauenmilch war der Türöffner. Mein Vater schmunzelte über den Rummel, mochte aber den zugänglichen Charme dieses Hypes zu Frikadellen und Kartoffelsalat, aber nur solange die Flasche Herkunft zeigte und Balance hielt.

1971 veränderten sich die Tischgespräche zu Wein in der Familie. Das neue Weingesetz sortierte Deutschlands Weinberge neu, bündelte Lagen, regelte Herkunft. Und ausgerechnet 1971 brachte auch noch einen großen Jahrgang hervor. „Großlage ist nicht automatisch großartig“, erklärte Vater, „aber eine gute Einzellage in einem guten Jahr kann Jahrzehnte tragen.“ Da verstand ich zum ersten Mal, dass es ihm um das „Dazwischen“ ging, nicht um „sauer oder süß“: ihm ging es um Spannung, Feinheit, Herkunft.

Aus Vaters Weinnotizen (1960–1975) – mit Blick nach vorn

Seine Kommentare waren knapp, aber treffsicher – und fast immer mit einem Statement zur Zukunft:

  • 1964 Ockfener Bockstein Spätlese (Saar) – „Rauch auf nassem Schiefer, Zitrus, weißer Pfirsich; sehr balanciert. Hält 20+ Jahre, gewinnt an Ruhe.“
  • 1969 Zeltinger Sonnenuhr Auslese (Mosel) – „Kandierte Zeste, Marzipan, feine Würze; Süße gut geführt. Wird zwischen 1985–1995 aufblühen.“
  • 1971 Piesporter Goldtröpfchen Auslese (Mosel) – „Aprikose, Akazienhonig, helles Wachs; große Länge. Großes Potenzial, 15–30 Jahre.“
  • 1971 Hallgartener Jungfer Kabinett (Rheingau) – „Kühl, salzig, sehr fein; wenig Alkohol. Reift zu Blütenhonig und Kräutertee.“
  • 1975 Erdener Treppchen Spätlese (Mosel) – „Schlank, glasklar, feine Säure. Geduld: wird seidig.“

Der geerbte Keller

Jahre später stand ich vor seinem restlichen Keller. Vor allem späte 60er, frühe 70er. Ich öffnete vorsichtig, zuerst skeptisch. Die Erinnerung an „Säure oder Süße“ saß noch in mir. Aber da war plötzlich mehr: Schieferrauch, Bienenwachs, Kamille, Mirabelle, ein Hauch von Petrol bei gereiften Rieslingen, der nicht störte, sondern faszinierte. Die 1969er wirkten wie konservierte Sommerabende – klar und doch tief. 1971 zeigte den langen Atem, den mein Vater vorausgesehen hatte: Spannung ohne Schwere, ein Bogen aus Aprikose, Kräuterhonig und kühler Mineralik. Selbst 1975, dem man einst weniger Glamour zugeschrieben hatte, entfaltete mit Geduld eine stille Eleganz, die ich damals als Jugendlicher gar nicht hätte erkennen können.

Beim Probieren in den 1980ern und 1990ern lernte ich, seine Notizen zu „hören“. „Wird seidig“, hatte er zum Treppchen geschrieben. Und wirklich: Die Kanten waren zu Linien geworden, die Süße nicht mehr süß, sondern Schmelz; die Säure nicht mehr sauer, sondern Spiel. Ich verstand, dass er einen feinen Gaumen hatte, heute würde man sagen: Mein Vater war ein Kenner der Mosel- und Rheinweine. Ob ich das geerbt habe? Wer weiß. Gewiss ist: Ich habe ein Verständnis für das Besondere entwickelt, was ich heute eindeutig auf Vaters Inspiration zurückführe.

Späte Liebe, klare Vorlieben: Herkunft. Balance. Geduld.

Ich kam spät zum Wein, vielleicht, weil ich früh schon zu bestimmt darüber geurteilt hatte. Als ich das „Dazwischen“ entdeckte, suchte ich es überall. Gefällige, austauschbare Mainstreamweine, auf Effekt gebaut, ließen und lassen mich kalt. Wie Vater suche ich „Klang“ statt „Lautstärke“: Lagen, Jahrgänge, die etwas erzählen; Winzer, die nicht dem Trend, sondern ihren Parzellen folgen. Das Vorbild meines Vaters wirkt nach und das nicht als Dogma, sondern als Kompass.

Manchmal stelle ich mir vor, wie er heute ein Glas Wein heben würde. Er würde nichts erklären, nur nicken, vielleicht ein halbes Lächeln. Und wenn ich nippe, schmecke ich nicht mehr „Säure oder Süße“. Ich schmecke Zeit. Ich schmecke Orte. Ich schmecke einen Vater, der seinen Sohn nicht zu einem Weintrinker erziehen wollte, sondern zu jemandem, der zuhört, fühlt, schmeckt und versteht.

Und wenn irgendwo „Zeltinger Sonnenuhr“ oder „Hallgartener Jungfer“ aufleuchtet, öffnet sich für mich ein altes Notizbuch. Zwischen den knappen Zeilen höre ich ihn: „Herkunft. Balance. Geduld.“ Der Rest ist mein eigener Weg: zugegeben spät begonnen, eigenwillig, stets auf der Suche nach dem Besonderen. Vielleicht ist genau das die schönste Erbschaft aus Vaters Keller.

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Fotocredit: Symbolfoto – Generiert mit KI – Leider habe ich keine Originalfotos zu Verfügung.

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Seit 2000 bin ich mit dem Weinthema und der Weinszene verbunden. Ich agiere als Verleger, publiziere redaktionelle Beiträge und produziere Print- und digitale Weinmedien.