Louis, der Korkenzieher, und der verlorene Jahrgang

Louis, der Korkenzieher, und der verlorene Jahrgang

Kein Preis kann das überbieten – ein stiller Tropfen Wein – und ein Herz, das sich erinnert

Es war eine regnerische Nacht in Paris. Im Lager eines altehrwürdigen Auktionshauses – verborgen zwischen Gemälden, Mahagoni-Vitrinen und vergessenen Raritäten – schlummerte Louis in einer samtbezogenen Schatulle. Seit einem kleinen Zwischenfall im Drei-Sterne-Restaurant L’auberge Gustav, gelegen im Pariser weltberühmten Viertel für Gourmets Saint-Germain-des-Prés (ein Auszubildender hatte ihn aus Versehen mit einem antiken, versilberten Tischwerkzeug verwechselt), war er so versehentlich in der Schatulle verbannt und letztlich hierher zur Versteigerung gebracht worden. Eine Kränkung, wie sie tiefer nicht hätte sitzen können. Eine Demütigung, für Louis. Seither war er gefangen. Er konnte nichts machen. Er war sprichwörtlich in einer „Schublade des Vergessens“ verschwunden – ein Stillstand, ein Vakuum ohne Aufgabe, ohne Würde, ohne Wein.

Aber Louis war kein Korkenzieher, der sich mit Vergessen zufrieden gab. Er war ein Sucher. Ein Hüter. Und vor allem: ein Träumer. Und Träumer wissen – nichts geschieht zufällig.

Am Abend vor der angekündigten Auktion öffnete jemand die Tür des Lagerraums, das Licht ging an. Eine vertraute Stimme hallte durch den Raum. Léa, die junge Kellnerin aus dem Restaurant – Louis’ vertraute Gefährtin – trat ein, begleitet von einem Mitarbeiter des Auktionshauses. Louis horchte auf. Wird sie mich entdecken? Léa war schon lange auf der Suche nach ihm gewesen, und nun – durch ein seltsames Spiel des Schicksals – arbeitete sie hier als Unterstützerin der Weinauktion.

„Wo ist die Kiste mit dem Wein, Jules?“ fragte sie. „Hier, ganz oben“, murmelte der Mitarbeiter und wollte eine halb offene Schatulle zur Seite legen. Doch sie glitt ihm aus der Hand und fiel hinab. Unsanft krachte Louis zu Boden, umhüllt vom Staub vergangener Geschichten. „Louis…“, hauchte Léa, als hätte sie ein verschollenes Gedicht gefunden. Sie hob ihn auf, strich sanft über seine silberne Spirale, seinen geschwungenen Griff, und ihre Augen glänzten. „Endlich.“

In diesem Moment schlug Jules den Deckel der Kiste auf und las laut vom Etikett: „Clos des Âmes Perdues, Millésime mille neuf cent treize“ (Jahrgang 1913). Kurz innehaltend bemerkte er einen vergilbten Zettel in der Kiste. „Hier steht: Vin disparu.“ Der verlorene Wein! Louis’ Spirale kribbelte vor Aufregung, als er es hörte. Ein Mythos. Ein verschwundener Jahrgang, vernichtet im Krieg – man hatte nie wieder eine einzige Flasche gefunden. Und nun lag sie hier. Ungeöffnet. Unerhört. Über ein Jahrhundert lang im Dunkeln.

„Was passiert mit der Flasche?“ fragte Jules. „Sie wird morgen Abend bei einer geheimen Auktion versteigert“, antwortete Léa. „Aber der Direktor hat beschlossen, sie vorher zu öffnen – zu Prüfzwecken. Sie wollen den Duft, den Zustand des Korkens, vielleicht sogar eine mikroskopische Probe entnehmen. Nur zum Analysieren, nicht zum Trinken.“ Jules runzelte die Stirn. „Und dann?“ „Dann wird sie wieder verschlossen, versiegelt, als Museumsstück präsentiert. Etwas zum Staunen – nicht zum Genießen, meinte der Direktor“, sprach Léa immer leiser, ihren eigenen Worten zuhörend. Dabei kam ihr ein Gedanke …

Louis erstarrte. Einen Wein nicht trinken? Das wäre, als sperrte man eine große Liebe in eine Vitrine. Unberührt. Ungelebt. Undenkbar. Auch Louis fasste einen Plan. Er musste diese Flasche befreien. Er spürte Léas Gedanken. Er wusste, Léa würde ihn dabei unterstützen. Doch vorerst legte Léa Louis behutsam zurück in die Schatulle. Sie schaute ihn mit einem sanften Blick an und Louis verstand, dass sie beide bald Großes erleben und Léa ihn dann an sich und wieder mit ins Restaurant nehmen würde.

Am Abend der Auktion war der Saal erfüllt von gedämpften Stimmen, Rascheln von Programmen und dem Klingen von Champagnerflöten. Der „Clos des Âmes Perdues“ wurde auf einem samtenen, beleuchteten Podest präsentiert, umringt von Experten mit Monokeln, Maßanzügen und makellosem Vokabular.

Louis war bereit. Und er war nicht allein. Léa, deren Großvater einst in jenem kleinen Burgunderdorf gelebt hatte, wo dieser Wein gekeltert worden war, hatte sich heimlich Louis’ Schatulle aus dem Lagerraum geschnappt. Sie wusste, dass er nicht irgendein Korkenzieher war. Er war der Richtige für ihr Vorhaben. Er war ihr Freund. Er gab ihr Kraft. Sein Glanz, seine Haltung, seine Geschichte – all das sprach eine Sprache, die sie verstand.

Ihr Großvater Maurice hatte ihr oft von diesem Wein erzählt – vom verlorenen Jahrgang, wie er ihn nannte. Er war damals ein junger Mann gewesen, frisch verlobt, voller Hoffnung. Der „Clos des Âmes Perdues“ war für seinen Hochzeitstag vorgesehen, doch der Krieg kam – und mit ihm das Verschwinden der gesamten Produktion. Der Wein war nie getrunken worden. Auch seine Verlobte Claire Lou hatte er nie wieder gesehen.

„Wenn du ihn je findest, Léa“, hatte er gesagt, „dann trink ihn. Trink ihn für uns, für das, was nie war. Gib ihn nicht her, verkaufe ihn nicht. Das wäre schlimmer als alles.“ Diese Worte hallten jetzt in ihr nach. Und als sie die Flasche auf dem Podest sah, einsam, still, gefangen wie eine nie geschriebene Liebeserklärung – wusste sie: Jetzt ist der Moment.

Als sich die Menge kurz abwandte – der Direktor betrat den Raum – trat Léa vor. Mit Louis in der Hand. Ihre Augen begegneten der Flasche. Und für einen winzigen Moment schien es, als atmete der Wein selbst. „Für Opa“, flüsterte sie, während sie Louis ansetzte.

Louis spürte den Korken. Brüchig, aber stolz. Gealtert, aber aufrecht. Mit der Anmut eines Tänzers, mit dem Ernst eines Poeten drehte sich Louis in die Geschichte hinein. Und dann – ein fast unhörbares Plopp. Doch die Menge bemerkte es. Alle drehten sich um.

Léa, Louis in der einen, den Korken in der anderen Hand, war wie in Trance. Sie bemerkte den entströmenden Duft – sanft, bittersüß, Noten von getrocknetem Veilchen, altem Leder, vergilbten Erinnerungen. Die Menge erstarrte ob dieses Anblicks.

Doch Léa zog ihr Vorhaben weiter durch, gestärkt durch Louis und das Gefühl, wieder mit ihm vereint zu sein. In Gedenken an ihren Opa füllte sie einen winzigen Schluck in ein Glas. Da trat aus der Stille eine alte Dame hervor. Niemand hatte sie bemerkt, eine unscheinbare Erscheinung. Aber ihre Augen – klar, traurig, wunderschön – leuchteten wie das erste Licht über Bordeaux.

„Claire Lou mein Name – darf ich?“ fragte sie leise. Kein Widerwort. Absolute Stille im Saal. Léa nickte fast unmerklich, noch benommen von ihrer Aktion und von dem Namen, den sie gerade gehört hatte. Die Dame hob das Glas. Ihre Hand zitterte kaum merklich. „Für dich Maurice. Für uns, vereint mit unserem Lieblingswein.“ Sie trank. Eine Träne löste sich von ihrer Wimper. Sie schloss die Augen. Und lächelte.

Dieser Augenblick, dieses Erlebnis – Louis vibrierte in Léas Hand. Er wusste und spürte: Dies war der Grund seines Daseins. Nicht jeder Moment braucht Applaus. Manchmal reicht ein stiller Tropfen Wein – und ein Herz, das sich erinnert.

Die Auktion des „Clos des Âmes Perdues“ wurde abgebrochen. Kein Preis konnte das überbieten. Selbst der Direktor war berührt. Das Auktionsteam durfte kosten, die Flasche wurde leer. Doch die Geschichte war erfüllt. Aber nicht ganz, denn Léa wollte die Geschichte der alten Dame hören, die sich als Claire Lou vorgestellt hatte. Was sie erfuhr, das ist wiederum eine eigene Geschichte.

Am Ende des Abends steckte Léa Louis behutsam in ihre Tasche. Er war wieder bei ihr. Bereit für das nächste große Glas, das nächste große Herz, das nächste stille Wunder. Und Louis – Louis fühlte sich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder würdig und geliebt.

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Fotocredit: © Adobe Stock/Yuli

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Seit 2000 bin ich mit dem Weinthema und der Weinszene verbunden. Ich agiere als Verleger, publiziere redaktionelle Beiträge und produziere Print- und digitale Weinmedien.