Heute ist der Tag
Es war einmal ein Korkenzieher namens Louis, der in einem schier unerschöpflichen Weinkeller zurückgelassen wurde. Louis war ein prächtiges Exemplar aus glänzendem Silber, seine Spirale perfekt geschwungen, sein Griff aus edlem Holz, die Jahre seiner Erfahrungen und Erlebnisse spiegelnd. Er war nicht irgendein Korkenzieher, sondern der persönliche Favorit des Sommeliers Pierre, der ihn stets mit Stolz und Sorgfalt benutzte. Doch eines Tages blieb Pierre einfach weg …
Louis erwachte wie jeden Tag mit dem ersten Lichtstrahl, der durch das kleine Kellerfenster fiel. Heute jedoch war ein besonderer Tag. Heute würde er das tun, was kein anderer Korkenzieher jemals gewagt hatte: den Weinkeller erkunden.
Er sprang von seinem angestammten Platz und begann, durch die Regale zu huschen. Die Flaschen schienen endlos, jede mit einer eigenen Geschichte, einem eigenen Geheimnis. „Heute ist der Tag!“, flüsterte Louis sich selbst zu. „Heute werde ich das Unmögliche entdecken.“
Sein erster Stopp war eine Reihe edler Bordeaux-Weine. „Bonjour, meine Lieben“, grüßte Louis charmant. „Wäre einer von euch so freundlich, mir den Weg zur geheimen Flasche zu zeigen?“ Die Flaschen kicherten leise, aber keine gab eine Antwort. Louis setzte seinen Weg fort.
Er traf auf einen alten Korkenzieher namens Gaston, der schon bessere Tage gesehen hatte. „Gaston, du alter Freund“, sagte Louis, „weißt du etwas über die geheime Flasche?“ Gaston blinzelte träge. „Ach, Louis, du Träumer. Diese Flasche ist nur eine Legende.“
Doch Louis ließ sich nicht entmutigen. Er setzte seinen Weg fort und fand sich bald vor einer massiven Holztür wieder, die er nie zuvor bemerkt hatte. „Was verbirgst du?“, murmelte er und schob die Tür mit all seiner Kraft auf. Dahinter lag ein Raum, der selbst Louis den Atem nahm.
Es war ein Saal, gefüllt mit den seltensten und wertvollsten Weinen der Welt. Doch in der Mitte des Raumes stand eine einzelne Flasche auf einem Podest, beleuchtet von einem sanften, goldenen Licht. „Die geheime Flasche!“, keuchte Louis. Er konnte es kaum glauben.
Er sprang auf das Podest und betrachtete die Flasche näher. „Château Mystère“, las er laut vor. Ein Wein, der in der Weingeschichte nur als Legende bekannt war. Ein Wein, der angeblich unendlich viel Wissen und Weisheit in sich trug. Louis wusste, was er zu tun hatte.
Mit einem eleganten Schwung setzte er seine Spirale an den Korken und begann zu drehen. Es war, als ob die Welt um ihn herum verschwände. Plötzlich war da ein Geräusch, ein leises Flüstern. Louis hörte zu, und die Flasche begann, ihm Geschichten zu erzählen. Geschichten von verlorenen Schätzen, von Liebe und Verrat, von Glück und Trauer. Jede Geschichte schien endlos, jede faszinierender als die vorherige.
Louis war hingerissen. Er hatte das Unmögliche entdeckt, und es war wundervoll. Der ganze Tag verging, während er der Flasche lauschte. Und als der Abend kam, wusste er, dass sein Leben nie mehr dasselbe sein würde. Er war nicht mehr nur ein Korkenzieher. Er war der Hüter der Geschichten, der Träume und Geheimnisse dieses unglaublichen Kellers.
In der Dunkelheit des Kellers leuchtete Louis nun selbst, erfüllt von dem Wissen und den Geschichten, die er entdeckt hatte. Er war stolz und glücklich, denn er wusste, dass er nie mehr allein sein würde. Denn solange es Geschichten gab, würde er immer einen Grund haben, weiter zu träumen und zu suchen.
Und so endete ein perfekter Tag für Louis, den Korkenzieher, der das Unmögliche entdeckt hatte.
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