Präzision, Teamgeist und die neue Handschrift von La Chablisienne
Teil-1 der Trilogie: „Von der Poesie des Terroirs bis zur Wissenschaft des Experiments“ – Drei Frauen erzählen, wie sie den Wein neu denken, neu fühlen lassen und ihn für die Zukunft komponieren.
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Von der Leidenschaft für Genuss und vom „White Winemaker of the Year“ inspiriert – wie eine junge Önologin die größte Kellerei von Chablis prägt und selbst die Auszeichnung erhielt.
Chablis. Wenn man Estelle Roy begegnet, spürt man sofort, dass hier jemand mit klarem Blick und spürbarer Leidenschaft ans Werk geht. Die 1980er Jahre in Belfort geboren, wuchs sie in einer Familie auf, in der Gastronomie und Esskultur zum Alltag gehörten. Früh lernte sie, dass Genuss immer auch ein Dialog ist zwischen Speisen, Weinen und Menschen. Diese Prägung wurde zur Triebkraft ihrer beruflichen Laufbahn.
Nach ihrem Önologendiplom (DNO) in Dijon im Jahr 2012 suchte Estelle gezielt die Vielfalt: Elsass, Beaujolais und Burgund. Chardonnay, Pinot Noir, Gamay, Muscat, Pinot Gris. Jeder Wein, jede Region war für sie eine neue Schule der Präzision. 2014 ließ sie sich schließlich im Burgund nieder, in Marsannay, wo sie in einem renommierten Weingut als Kellermeisterin ihre Ausbildung vertiefte. Fünf Jahre Erfahrung mit roten Rebsorten legten das Fundament für ihre nächste, entscheidende Etappe: Chablis.
2019 trat sie in die Keller von La Chablisienne ein. Es ist die bedeutendste Genossenschaft der Appellation, mit rund 300 Winzerfamilien und einem Viertel der Gesamtproduktion. An ihrer Seite: Vincent Bartement, dreifacher „White Winemaker of the Year“. Roy fand in ihm nicht nur einen Mentor, sondern auch einen Partner, der ihre kompromisslose Haltung zur Qualität teilte: jedes Terroir in seiner Eigenart ernst zu nehmen, jedem Jahrgang Seele und Ausdruck zu verleihen.
Vier Jahre arbeiteten beide Schulter an Schulter, bevor Estelle im Mai 2023 die Leitung des Önologenteams übernahm. „Es war ein natürlicher Schritt“, sagt sie, und doch ein Schritt von großer Tragweite. Denn La Chablisienne ist nicht nur ein Betrieb, es ist ein Organismus: hunderte von Familien, die ihre Trauben anliefern, hunderte Partien, die orchestriert werden müssen. Roys Aufgabe: aus dieser Vielfalt eine klare, unverwechselbare Handschrift zu formen.
Ihre Philosophie fasst sie schlicht zusammen: Balance und Harmonie. Oder wie sie selbst sagt: „Die Vinifikation ist der magische Moment der Verwandlung der Trauben in Wein. Für mich ist es wichtig, Traditionen zu respektieren und zugleich ständig nach Verbesserung und Qualität zu streben. Wein ist wie Kunst: Er ruft unterschiedliche Aromen, unterschiedliche Texturen hervor, und beim Probieren spürt man unterschiedliche Emotionen. Das Wichtigste für mich ist, Emotionen zu teilen.“
Gerade in Zeiten des Klimawandels setzt sie auf frühere Lese, differenzierte Gärführung und das Vertrauen auf die Kimmeridge-Böden, deren salzige Spannung das Rückgrat der Weine bildet. Präzise Vinifikation im Edelstahl, selektiver Einsatz von Holz dort, wo es Struktur und Länge gibt, akribisches Arbeiten mit Feinhefen und dies immer im Dienst der Transparenz, nie als Selbstzweck. „Ein Chablis darf niemals verkleidet wirken“, lautet ihr Credo.
Dass dieser Ansatz überzeugt, zeigte sich eindrucksvoll 2024: Bei der International Wine Challenge holte La Chablisienne 18 Medaillen und drei Chablis-Trophäen. Estelle Roy selbst wurde zur „White Winemaker of the Year“ als erste Frau aus Chablis gekürt. „Diese Auszeichnung ist ein Moment des großen Stolzes für uns. Sie spiegelt die Hingabe, die Teamarbeit und die Leidenschaft unserer 200 Familien wider, die alle gemeinsam daran arbeiten, das Erbe unserer Terroirs zu bewahren.“ Worte, die ihr Selbstverständnis klar machen: Die Auszeichnung gilt nicht ihr allein, sondern dem ganzen Kollektiv.
Privat bleibt Estelle Roy tief mit dem Land verbunden. ihr Mann ist Winzer, das Gespräch über Reben, Böden und Jahrgänge gehört zum Alltag. Vielleicht ist es genau diese doppelte Verwurzelung, einerseits in der Familie andererseits im Beruf, die sie befähigt, Chablis heute neu zu denken: als Herkunft, die Klarheit verlangt, und als Zukunft, die Führungsstärke braucht.
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Fotocredit: Estelle Roy, La Chablisienne