Ein Etikett von Miró: Wein auf 7 Quadratzentimetern

Ein Etikett von Miró: Wein auf 7 Quadratzentimetern

Ein Essay über Farbe, Prestige und die Verwandlung der Flasche in ein Kunstwerk

Was passiert, wenn ein Künstler von Weltrang eine Fläche gestaltet, die kaum größer ist als ein Spielkartenblatt und diese Fläche nicht in einem Museum, sondern auf einer Weinflasche landet? Im Jahr 1969 beauftragte Château Mouton Rothschild den spanischen Maler Joan Miró mit dem Etikett ihres Premier-Cru-Rotweins. Was folgte, war mehr als ein dekorativer Akt. Es war die Fortsetzung der Kunst mit anderen Mitteln: in Tinte, auf Papier, an der Schwelle zwischen Konsum und Kontemplation.

Seit 1945 lässt das berühmte Bordeaux-Weingut jährlich ein Etikett von einem Künstler gestalten. Es begann mit einem Gedenken an das Kriegsende (Philippe Jullian), gefolgt von Cocteau, Braque, Dalí, später auch Warhol, Baselitz und Koons. Die Liste liest sich wie ein Streifzug durch die Kunstgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, kuratiert von einem Weingut, das Prestige nicht als Pose, sondern als Kulturarbeit begreift.

Mirós Beitrag zu dieser Reihe ist typisch für ihn, ein verspieltes, leuchtendes Werk in Rot, Blau und Schwarz. Ein Bild, das keine Reben zeigt, keine Gläser, keine Trinkenden. Und doch ist es durch und durch vom Geist des Weins durchdrungen: spontan, heiter, tänzerisch. Ein Werk der Freiheit. Ein Bild, das sich weigert, entschlüsselt zu werden, und gerade dadurch so offen ist wie ein gut gereifter Pauillac nach dem zweiten Schluck.

Dass ein Etikett, ursprünglich ein rein funktionaler Informationsträger, zur Kunstfläche wird, ist mehr als Marketing. Es ist ein Statement: Wein ist nicht bloß ein Getränk, er ist ein kulturelles Objekt. Er lebt nicht nur vom Terroir, sondern auch vom Image, von Geschichte, von Aura. Und was verleiht Aura, wenn nicht die Kunst?

Natürlich: Man kann das Ganze auch als geschickte Imagepflege lesen. Mouton Rothschild sichert sich durch die Nähe zur Hochkultur einen Platz über dem Marktgeschehen. Aber das Etikett von Miró erzählt eine andere Geschichte. Es sagt: Auch ein kleiner Raum kann Träger großer Visionen sein. Es zeigt, dass Kunst nicht nur Wände braucht, sondern auch Flaschen, Gespräche, Tische. Dass sie Teil des Lebens sein kann, nicht nur seiner Abbildung.

Und vielleicht liegt genau darin die stille Magie dieser Reihe: Man entkorkt nicht nur einen Wein, man entrollt ein Bild, man berührt einen Gedanken. Für einen Moment vereint sich Handwerk und Idee, Frucht und Farbe, Erde und Imagination. Der Wein wird zum Träger eines Symbols. Und die Kunst, in ihrer kleinsten Form, zum Auftakt eines Gesprächs, das viel größer ist als 7 Quadratzentimeter.

=> Einleitung: Wo Wein auf Kunst trifft

=> (Teil-1) Der junge Bacchus: Caravaggios Spiegel der Trunkenheit

=> (Teil-2) Antinori: Die Kathedrale des Weins

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Fotocredit: Visualisierung mit künstlicher Intelligenz erstellt

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Seit 2000 bin ich mit dem Weinthema und der Weinszene verbunden. Ich agiere als Verleger, publiziere redaktionelle Beiträge und produziere Print- und digitale Weinmedien.