Die Suche nach dem wahren Weinkenner
In einer renommierten Weinhandlung mitten in einer belebten Stadt stand eine Flasche edlen Weins auf einem erhabenen Regal. Dieser Bordeaux barg eine Geschichte in sich, die nur wenige verstanden. Die dunkle, tiefrote Flüssigkeit spiegelte die jahrhundertelange Tradition und die kunstvolle Pflege der Reben wider, die sie hervorgebracht hatten. Die Flasche war sich ihrer außergewöhnlichen Qualität bewusst und wartete sehnsüchtig darauf, von einem wahren Weinkenner entdeckt zu werden.
Jeden Tag beobachtete der Bordeaux die unterschiedlichsten Kunden, die an den Regalen vorbeischlenderten. Manche blieben stehen, betrachteten das Etikett und schüttelten dann den Kopf. Andere würdigten es keines Blickes und griffen zu billigeren Alternativen. Ein leiser Hauch von Verachtung lag in der Luft, als diese verständnislosen Käufer an ihm vorbeigingen. Er fühlte sich missverstanden und war doch voller Hoffnung, dass eines Tages jemand kommen würde, der seinen wahren Wert erkannte.
An einem sonnigen Nachmittag betrat ein gut gekleideter Mann die Vinothek. Er wirkte selbstbewusst und sein Blick wanderte zielstrebig durch die Reihen der Weine. Der Bordeaux sah das Funkeln in seinen Augen und glaubte zu spüren, dass dieser Mann anders war. Aber war er wirklich der ersehnte Weinkenner? Mit zitternder Vorfreude und gleichzeitig mit verhohlener Skepsis beobachtete der Wein, wie der Mann näher kam, seine Hand nach der Flasche ausstreckte und sie sanft anhob. Eine Welle der Erleichterung durchströmte den Bordeaux – war dies der Moment, auf den er so lange gewartet hatte?
Die Zeit schien stillzustehen, als der Mann die Flasche eingehend betrachtete. Ein nervöser Moment, als seine Augen das Etikett scannten, und dann, zur unendlichen Erleichterung des Bordeaux, stellte er die Flasche behutsam zurück ins Regal.
Das Drama erreichte seinen Höhepunkt, als der erfahrene Weinhändler hinzukam. Er wusste um den Wert und die außergewöhnliche Qualität des Weines. Angesichts des tadellos gekleideten Kunden hoffte er wie der Wein, dass es sich um einen echten Kenner handelte. Mit professioneller Leidenschaft pries der Weinhändler den Wein an, sprach von seiner außergewöhnlichen Qualität, seiner Zugehörigkeit zu den besten Weinen der Welt und seinem unschätzbaren Wert – ohne den Preis zu nennen.
Der vermeintliche Kenner, den der Weinhändler sicher und der Wein eher unsicher als solchen voraussetzte, disqualifizierte sich jedoch schnell mit seiner Aussage: „Einen Wein als gut zu bezeichnen, ist relativ. Nur weil er selten und hoch dekoriert ist, heißt das noch lange nicht, dass er gut ist. Außerdem ist ein Bordeaux längst nicht mehr das, was er einmal war.“ Betretenes Schweigen des Weinhändlers. „Nicht heute“, sagte der Mann leise und erklärte, „wenn dieser Wein wirklich so ist, wie Sie ihn beschreiben, dann verdient er eine besondere Gelegenheit, und die kann ich ihm jetzt nicht bieten.“
Der Bordeaux atmete auf – wenn das bei einer Flasche überhaupt möglich ist. Er war gerettet, zumindest für den Augenblick. Der Weinhändler schien verwirrt, aber der Wein wusste es besser. Es war nicht der Moment, sich diesem Kunden zu offenbaren. Er würde weiter warten, mit der Geduld, die nur die edelsten Weine aufbringen können. Eines Tages würde der richtige Weinkenner kommen, der seinen wahren Wert erkennen und ihn mit der Ehre und Sorgfalt behandeln würde, die er verdiente. Und so stand der Bordeaux weiterhin stolz im Regal, bereit für den Tag, an dem sich seine Bestimmung erfüllen würde
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