Jahrgang 1540 im Weinkeller des Bürgerspitals

Jahrgang 1540 im Weinkeller des Bürgerspitals

Gewachsen in der Megadürre – ein Wein als Zeitzeuge.

Er gilt als der vermutlich älteste Wein der Welt – ein flüssiges Denkmal, gehüllt in Staub, leicht gekrümmt vom Alter, als wolle die Flasche selbst dem Zahn der Zeit Respekt zollen. Gefüllt wurde sie in einer Epoche, als Anne Boleyn, Martin Luther, Nostradamus, Johannes Calvin und Kaiser Karl V. die Geschichte bestimmten und die Renaissance endlich auch nördlich der Alpen Wurzeln schlug.

Heute ruht dieser kostbare Wein, unversehrt und ungeöffnet, im historischen Weinkeller des VDP-Weinguts Bürgerspital zum Hl. Geist in Würzburg. In einer Mauernische, geschützt durch Glas, eingebettet in eine hölzerne Präsentationskiste, steht er – ein Juwel neben anderen historischen Raritäten.

Der Jahrgang 1540, geerntet in der berühmten Würzburger Lage „Stein“, ist ein Kind des Jahrhundertsommers – des heißesten und trockensten Jahres, das Europa je erlebt hat. Wo genau der Wein vinifiziert wurde, bleibt bis heute unklar. Klar ist nur: Niemand ahnte damals, dass dieser Wein einmal als „Jahrtausendwein“ in die Geschichte eingehen würde.

Vor Kurzem hatte ich die Gelegenheit, diesen sagenumwobenen Tropfen aus nächster Nähe zu betrachten und mit Robert Haller, dem Weingutsleiter des Bürgerspitals, über seine bewegte Geschichte zu sprechen.

Henry G. Simon und Rudolf Fries – die Bewahrer eines Schatzes

In den Wirren des Zweiten Weltkriegs nahm die jüdische Familie Simon die nachweislich letzte erhaltene Flasche des 1540er Steinweins mit ins Exil nach England. In den 1960er-Jahren bot Henry G. Simon, Nachfahre der einstigen Wiesbadener Winzerfamilie, den Wein zunächst dem Staatlichen Hofkeller an – dort allerdings war man nicht interessiert, obwohl der Wein ursprünglich aus genau diesem Keller stammte.

Simon wandte sich schließlich an das Bürgerspital, wo Rudolf Fries, damaliger Winzermeister und späterer Weingutsleiter, sofort das Potenzial erkannte. Ihm gelang es, sechs Flaschen der kostbaren Serie von Simon als Leihgabe für das Weingut zu sichern – darunter auch zwei der legendären 1540er-Flasche. Simons Verfügung war klar:

„Der Wein soll zurück in seine Heimat – und in Würzburg aufbewahrt bleiben.“

Heute sind Henry G. Simon und seine Frau verstorben. Die Entscheidung über den Verbleib der Flaschen lag bei den beiden Töchtern, die sich glücklicherweise für den dauerhaften Verbleib im Bürgerspital entschieden haben.

„Es war lange unklar. Umso mehr freut es uns, dass wir dieses Kleinod weiterhin bewahren dürfen“,
sagt Haller.

Für den Fall, dass der Wein eines Tages zurückgefordert oder verkauft werden sollte, hätte man im Bürgerspital vorsorglich eine Flaschenkopie anfertigen lassen – als sichtbares Symbol für die Geschichte, die dieser Wein in sich trägt.

„Bei Führungen zeigen wir diese besondere Schatzkammer – und darin den 1540er Steinwein, original in der Holzkiste“, sagt Haller.

Und wie schmeckt ein Wein aus dem Jahr 1540?

Eine unverschämte Frage, mag man denken. Und doch gibt es eine Antwort – zumindest einen flüchtigen Eindruck. Im Jahr 1961 fand in London eine Raritätenverkostung statt, bei der niemand Geringeres als der „Weinpapst“ Hugh Johnson zugegen war. Er durfte zwei kleine Schlucke aus der damals noch vorhandenen zweiten Flasche probieren – und notierte:

„Ehe der Wein durch die Berührung mit der Luft verging, war er noch erstaunlich lebendig. Nichts hat mir bisher so klar vor Augen geführt, dass Wein wahrhaftig ein lebendiger Organismus ist.“

Das Hitzejahr 1540 – Europas vergessene Klimakatastrophe

Was war das für ein Jahr, das einen solchen Wein hervorbrachte? Heute sprechen wir oft von Hitzewellen. Doch das Jahr 1540 stellt alles in den Schatten – auch die Sommer von 2003 oder 2015. Eine internationale Forschergruppe um Dr. Oliver Wetter von der Universität Bern analysierte über 300 historische Chroniken und veröffentlichte ihre Ergebnisse im Fachjournal Climate Change.

Ihr Fazit: Elf Monate ohne nennenswerten Niederschlag, ausgetrocknete Flüsse, verbrannte Ernten, flüchtende Bevölkerung – eine „Megadürre“ mit nie dagewesenem Ausmaß.

Dabei hatte nichts auf diese Katastrophe hingedeutet. Noch 1539 war das Jahr mild, regenreich, fast üppig. Niemand ahnte, wie wertvoll der Regen bald werden würde. Ab Januar 1540: Stillstand. Keine Wolken, keine Entspannung. Und doch – oder gerade deshalb – reiften in Würzburg außergewöhnliche Trauben, die diesen legendären Wein entstehen ließen.

Weingut Bürgerspital/C.Herdt (Die ältesten authentischen Weine der Welt. Ehemals im Besitz des verstorbenen Königs Ludwig von Bayern 1786–1868)

Ein Tropfen Ewigkeit

Der 1540er Steinwein ist mehr als nur ein Wein. Er ist eine Flaschenpost aus der Renaissance, ein stiller Zeuge von Krieg, Flucht, Hoffnung – und von der unbändigen Kraft des Weins, Zeit und Raum zu überbrücken.

Dass er sowie weitere kostbare Raritäten – die ältesten authentischen Weine der Welt (siehe Foto) – heute im Bürgerspital in Würzburg stehen, ist ein Glücksfall für die deutsche Weinkultur. Und vielleicht auch ein Zeichen dafür, dass manche Dinge, so kostbar sie sind, nicht in Tresoren verschwinden, sondern sichtbar bleiben sollen – für uns und für kommende Generationen.

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Fotocredit (Titelbild): © Weingut Bürgerspital/C.Herdt (Jahrgang 1540 – die letzte ihrer Reihe und wohl älteste Weinflasche der Welt)

Fotocrediit (Textbild): ©  Weingut Bürgerspital/C.Herdt (Die ältesten authentischen Weine der Welt. Ehemals im Besitz des verstorbenen Königs Ludwig von Bayern 1786–1868) – v. l. n. r.: 1822 Rüdesheimer, 1822 Johannisberger, 1540 Steinwein (leere Flasche), 1540 Steinwein (ungeöffnet), 1822 Rüdesheimer, 1857 Rüdesheimer

Weitere Infos zum Thema erfahren Weinliebhaber im Weingut Bürgerspital:
https://www.buergerspital.de/weingut/weinmacher/index.html

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Seit 2000 bin ich mit dem Weinthema und der Weinszene verbunden. Ich agiere als Verleger, publiziere redaktionelle Beiträge und produziere Print- und digitale Weinmedien.