Ein Tropfen Ewigkeit – oder ein Mythos auf dem Prüfstand?
Er steht unter Glas, gehüllt in den Staub der Jahrhunderte, in einer hölzernen Kiste wie ein Schatz aus einer fernen Zeit: Der sogenannte „1540er Steinwein“ – eine Flasche, die mehr Fragen aufwirft als Antworten gibt und dennoch wie kein anderer Tropfen die Phantasie der Weinwelt beflügelt. Heute ruht sie im historischen Weinkeller des VDP-Weinguts Bürgerspital zum Hl. Geist in Würzburg. Es ist ein Monument, nicht nur des Weins, sondern auch seiner Geschichten.
Die Renaissance, in der dieser Wein angeblich entstanden ist, war zwar längst über Europa hinweggezogen, als diese Flasche gefüllt wurde, doch nicht im 16. Jahrhundert, wie man vermuten könnte. Die Glasflasche selbst stammt mit großer Wahrscheinlichkeit erst aus dem späten 18. oder frühen 19. Jahrhundert. Ihre Form und Machart wären zur Zeit Karls V., Martin Luthers oder Nostradamus’ technisch noch gar nicht möglich gewesen. Erst der englische Glastechniker Kenelm Digby entwickelte im 17. Jahrhundert ein Verfahren, das dickwandige Weinflaschen in Serienproduktion ermöglichte. Der Korkverschluss in der heute sichtbaren Form kam überhaupt erst im 18. Jahrhundert in breiter Anwendung auf.
Und dennoch trägt die Flasche das Etikett „1540“, eine Jahreszahl, die seit Jahrhunderten als Synonym für einen der heißesten Sommer in Europas Geschichte steht.
Vor Kurzem hatte ich die Gelegenheit, diesen sagenumwobenen Tropfen aus nächster Nähe zu betrachten und mit Robert Haller, dem Weingutsleiter des Bürgerspitals, über seine bewegte Geschichte zu sprechen.
Der Mythos vom Jahrgang 1540
Der Jahrgang 1540 ist legendär. Damals, in einem beispiellosen Dürrejahr, reiften am Würzburger Stein vermutlich besonders konzentrierte, zuckerreiche Trauben. Doch der Wein, den wir heute im Bürgerspital bestaunen können, wurde nicht kurz darauf abgefüllt, dafür fehlten schlicht die technischen Voraussetzungen. Stattdessen muss man sich eine lange Geschichte der Fasslagerung vorstellen: Jahrhunderte, in denen der Wein, oder besser gesagt: das, was einmal mit dem Jahrgang 1540 begann, in großen Holzfässern ruhte.
Ob es sich tatsächlich um einen sortenreinen Jahrgang handelt, ist historisch kaum haltbar. In der Frühen Neuzeit war es üblich, Weine im Fass nach dem Solera-Prinzip aufzufüllen. Was 1540 eingelagert wurde, wurde in den folgenden Jahrzehnten mit späteren Jahrgängen ergänzt. Das Fass trug die Jahreszahl seines Ursprungs, nicht aber den reinen Inhalt von damals. Vergleichbar ist dies mit der heute noch gelebten Tradition in Montilla-Moriles, wo etwa der „Pedro Ximénez Solera 1927“ zwar seinen Namen trägt, aber kaum mehr 1927er enthält.
Erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als Flaschenfüllung allmählich auch in Deutschland zur Mode wurde, hielt man es offenbar für angemessen, diesen ehrwürdigen Fasswein, oder was davon noch darin war, in Glas zu überführen.
Henry G. Simon und Rudolf Fries – die Bewahrer eines Schatzes
Was dann folgte, ist eine Geschichte von Krieg, Flucht und Heimkehr. Während des Zweiten Weltkriegs nahm die jüdische Familie Simon die nachweislich letzten erhaltenen Flaschen des 1540er Weins mit ins Exil nach England. In den 1960er-Jahren bot Henry G. Simon, Nachfahre einer Wiesbadener Winzerfamilie, das historische Stück zunächst dem Staatlichen Hofkeller an. Doch dort zeigte man kein Interesse – obwohl der Wein einst, so wird angenommen, aus dessen Besitz stammte.
Simon wandte sich an das Bürgerspital. Dort erkannte Rudolf Fries, damaliger Winzermeister, den kulturhistorischen Wert auf Anhieb. Es gelang ihm, sechs Flaschen der Serie als Leihgabe zu sichern, darunter auch zwei mit der Aufschrift „1540“. Simons Wunsch war eindeutig: „Der Wein soll zurück in seine Heimat – und in Würzburg aufbewahrt bleiben.“
Heute sind Henry G. Simon und seine Frau verstorben. Die Entscheidung über den Verbleib der Flaschen lag bei ihren Töchtern, die sich für das Bürgerspital entschieden, eine Geste, die den Mythos bewahrt, ohne ihn zu verklären. „Es war lange unklar. Umso mehr freut es uns, dass wir dieses Kleinod weiterhin bewahren dürfen“, sagt Weingutsleiter Robert Haller.
„Für den Fall, dass die Flasche eines Tages zurückgefordert oder verkauft werden sollte, wären wir im Weingut vorbereitet, um vorsorglich eine Flaschenkopie anfertigen zu lassen als sichtbares Symbol der Geschichte, die sich um dieses Objekt rankt“, so Robert Haller.
Eine Frage des Geschmacks?
Und wie schmeckt ein solcher Wein? Vermutlich wird man es nie wirklich wissen. Doch es gibt einen historischen Augenblick, der ein flüchtiges Bild hinterließ. 1961 fand in London eine Raritätenverkostung statt. Unter den wenigen Auserwählten: der junge Hugh Johnson. Er durfte zwei kleine Schlucke aus einer der Flaschen kosten und schrieb:
„Ehe der Wein durch die Berührung mit der Luft verging, war er noch erstaunlich lebendig. Nichts hat mir bisher so klar vor Augen geführt, dass Wein wahrhaftig ein lebendiger Organismus ist.“
1540 – Das Jahr der Megadürre
Was war das für ein Jahr, das diesen Mythos begründete? Eine internationale Forschergruppe um Dr. Oliver Wetter von der Universität Bern analysierte über 300 historische Chroniken. Ihre Veröffentlichung im Fachjournal Climate Change dokumentiert das Jahr 1540 als eine epochale Klimakatastrophe: elf Monate ohne nennenswerten Regen, ausgetrocknete Flüsse, verdorrte Ernten, Hungersnöte. Gegen Ende des Sommers wurde aus der Not Erfindung: Wo Wein überhaupt noch reifte, war er süß, konzentriert, dicht.
Und doch ist kaum vorstellbar, dass ein Wein aus dieser Ernte mehr als Spuren in einer heutigen Flasche hinterlassen hat.

Zwischen Legende und Kulturgeschichte
Der 1540er Steinwein ist keine Zeitkapsel im wörtlichen Sinn und dennoch von unschätzbarem Wert. Er steht für ein kollektives Erinnern, für unsere Sehnsucht nach Ewigkeit im Vergänglichen. Und er zeigt, wie Geschichte und Legende im Wein einander begegnen können.
Dass er, gemeinsam mit weiteren historischen Raritäten, heute im Bürgerspital bewahrt wird, ist ein Geschenk für die deutsche Weinkultur. Vielleicht mahnt uns dieser Tropfen mehr zur Demut als zum Staunen: Nicht alles, was alt ist, ist unverfälscht. Aber manches, das überdauert, ist umso wertvoller, gerade weil es Fragen offenlässt.
Weinhistorische Korrekturen
Dr. Stefan Pegatzky
Ein besonderer Dank gilt Herrn Dr. Pegatzky für seine fundierten und äußerst hilfreichen Hinweise zu meinem Artikel über den 1540er Steinwein im Bürgerspital Würzburg. Seine weinhistorischen Korrekturen und Ergänzungen waren nicht nur sachlich wertvoll, sondern haben auch maßgeblich dazu beigetragen, den Text auf eine historisch belastbare Grundlage zu stellen, ohne dabei die Faszination für dieses außergewöhnliche Objekt zu schmälern.
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Fotocredit (Titelbild): © Weingut Bürgerspital/C.Herdt (Jahrgang 1540 – die letzte ihrer Reihe und wohl älteste Weinflasche der Welt)Fotocrediit (Textbild): © Weingut Bürgerspital/C.Herdt (Die ältesten authentischen Weine der Welt. Ehemals im Besitz des verstorbenen Königs Ludwig von Bayern 1786–1868) – v. l. n. r.: 1822 Rüdesheimer, 1822 Johannisberger, 1540 Steinwein (leere Flasche), 1540 Steinwein (ungeöffnet), 1822 Rüdesheimer, 1857 Rüdesheimer
Weitere Infos zum Thema erfahren Weinliebhaber im Weingut Bürgerspital:
https://www.buergerspital.de/weingut/weinmacher/index.html